WAls ich in den 1990er Jahren zur Schule ging, wurde DDR-Literatur weder gelehrt noch studiert. Es wurde als eine beschämende Sache behandelt. Obwohl es in unserer Bibliothek in Leipzig viele davon gibt, kann ich mich nicht dazu durchringen, ein Buch eines ostdeutschen Autors in die Hand zu nehmen. Rückblickend glaube ich, dass die öffentliche Wahrnehmung der alten sozialistischen Republik daran schuld war. Es hat mir Angst gemacht.
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 markierte den Anfang vom Ende der ostdeutschen Kunst und Literatur. Alles, was unsere Kulturgeschichte geprägt hat, wurde gedacht, gesprochen und geschrieben. Die Westdeutschen übernahmen die Herrschaft über die Geschichte, und ihr Urteil war klar: Der ehemalige ostdeutsche Staat hatte in jeder Hinsicht Unrecht und nichts. Bücher, Theaterstücke, Gemälde, Skulpturen, Filme und Musik wurden vergraben und zurückgelassen, weil auch sie als falsch galten.
In den letzten Jahren hat sich der Diskurs verändert. Jahrzehnte später fand die deutsche Öffentlichkeit – nachdem sie die harten, kritischen Narrative von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Propaganda und Überwachung in der DDR richtig verarbeitet hatte – endlich Raum, das verlorene kulturelle Erbe Ostdeutschlands wiederzubeleben. Berühmte Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann wurden wiederentdeckt. Im Jahr 2023 wurden drei ihrer Bücher neu veröffentlicht und ihre Geschichte „Siblings“ wurde schließlich ins Englische übersetzt, was 50 Jahre nach ihrem Tod internationale Anerkennung fand.
Heutzutage gibt es viele Schriftsteller Spezielle Romane Für das verschwundene Land und seine Bürger. Von außen könnte man meinen, dass ostdeutsche Geschichten und Schriftsteller, insbesondere Frauen, eine Art Comeback erleben, ihre Biografien, Stimmen und Bücher plötzlich Grenzen überschreiten und Leser auf der ganzen Welt in ihren Bann ziehen.
In diesem Frühjahr gewann die 1967 in Ost-Berlin geborene Jenny Erbenbach für ihren Roman „Kairos“ den Booker International Prize. Erbenbach erhielt überall große Anerkennung und galt als Nobelpreisträger – außer in Deutschland.
Hier wurde Erbenbeck angeklagt Die DDR beschönigt die Geschichte. Historiker und die westdeutsche Herrschaft“Feuilletons” sagen die internationale – insbesondere die englischsprachige – Presse Romantisierung des ehemaligen sozialistischen Staates und spielt seine Schrecken herunter. Es ist ein neuer Kulturkonflikt entstanden, der durch die Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern im September andauern – und wahrscheinlich eskalieren – wird.
Einige der Vorwürfe gegen Erbenbach sind schwerwiegender. Ein Zeitungsartikel Er beschrieb seine Arbeit als Angebot „einer wohlwollenden, manchmal liebevollen Vision des Sozialismus“. Noch einer darauf hingewiesen Erbenbeck sei „in einer kommunistischen Parallelwelt mit allerlei Privilegien aufgewachsen“ und würde die DDR daher als „einen Ort der Nostalgie und Hoffnung“ darstellen. Das alles war nicht als Kompliment gedacht, sondern als Beweis für ihre wahnhafte Einstellung.
Als „Kairos“ 2021 erschien, sprach in Deutschland niemand darüber, bis es für den Internationalen Booker-Preis nominiert wurde. Der Roman spielt im Ostberlin der späten 1980er und frühen Jahre der Wiedervereinigung. Erzählt wird die Liebesgeschichte zwischen dem verheirateten Schriftsteller Hans und der 19-jährigen Katharina Anfang der 50er Jahre. Erbenbeck glaubt, dass es kein einziges Buch gibt, das die schlimmste Geschichte über die DDR erzählt – die Autokratie und Manipulation geht Katarina wirklich ins Fleisch, erzählte sie mir, als wir uns vor ein paar Wochen trafen. Hans war Mitglied der Stasi. „Wo ist da der Ruhm?“ sie fragte.
Es ist richtig, die Heldin des Romans und ihr Boheme-Leben in Ostberlin nicht zu mögen. Was in der aktuellen Debatte jedoch vergessen wird, ist, dass Katharina eine Kunstfigur und Erbenbeck eine Schriftstellerin und keine Historikerin ist. Dabei geht es ihr vor allem um den Ausdruck von Emotionen, subjektiven Erlebnissen und Erinnerungen.
Viele Kritiker wenden sich gegen Erbenbachs Darstellung Westdeutschlands. Katarina sieht es nicht als freien Raum, sie möchte ein Teil davon sein. Wie Erbenbach in mehreren Interviews zugegeben hat, ging es ihr auch so. Hätte sie über die große Dankbarkeit einer Ostdeutschen schreiben sollen, die endlich den schönen Westen besuchen durfte? Vielleicht wird Kritik an Westdeutschland und am Kapitalismus immer noch nicht geduldet.
Es überrascht nicht, dass Erbenbachs Hauptkritiker Männer waren. In einem Leben, das die Kunst nachahmt, ist die Lehrerin eine befreite Frau, die verlernt hat, sich zu unterwerfen, und dafür bestraft wird.
Erbenbach war nicht die einzige Schriftstellerin, der ein naiver und verblendeter Blick auf die DDR vorgeworfen wurde. Die Autorin und Historikerin Katja Hoyer, 39, sagte, ihr Buch „Beyond the Wall“, ein internationaler Bestseller, habe in Deutschland, wo das Buch als Meisterwerk galt, kaum Anerkennung gefunden. Grundlegende Unwissenheit Und „Nicht nur eine Enttäuschung, sondern ein echtes Ärgernis“. Ein überzeugter Sozialist wie Reiman und seine Geschichte „Die Geschwister“, die letztes Jahr begeisterte Kritiken erhielten, war für einige ein Schock. New Yorker.
Es gibt ein bestimmtes deutsches Wort, DeutungshöheBedeutung: Deutungshoheit. Wenn es um historische Ereignisse im Land geht, wird es oft wie unser Geliebter verwendet Vergangenheitsbewältigung. 35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung debattieren wir darüber, was historische Wahrheit ist und wessen Deutungshoheit Ostdeutschland zukommt. Diese Debatte hat einen Punkt erreicht, an dem Literatur und Bücher zu Waffen werden. Wie sieht die deutsche Kultur im Ausland aus, wenn plötzlich Menschen wie Erbenbeck, Hoyer oder Reimann den Ton angeben? Wann bestimmten ostdeutsche Frauen das internationale Bild der DDR? Eine Antwort: Wir werden es nicht haben.
Als ich in Leipzig aufwuchs, waren die Erwachsenen, die mich großzogen, vom Sozialismus geprägt und galten nach der Wende als Verlierer. Infolgedessen trugen sie ein großes Schamgefühl mit sich. Für einige hat sich diese Scham nun in Wut und den Drang verwandelt, gegen den Status quo zu rebellieren. Ihr Oppositionsmittel ist leider die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD). Laut Umfragen könnte die AfD Starke Kraft In Sachsen, dem Bundesland, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist unglaublich gefährlich und unerträglich.
Gleichzeitig ist die AfD nicht nur ein ostdeutsches Problem, sondern ein weitgehend erfundenes. Die Gründer und Führer der rechtsextremen Populistischen Partei waren allesamt Westdeutsche. Hier liegt möglicherweise die unbequeme Wahrheit: Es gibt kein „Deine Geschichte, meine Geschichte“, wenn es um Ostdeutschland geht. Das ist unsere Geschichte, eine Geschichte mit unterschiedlichen Perspektiven, und wenn die Deutschen die ostdeutsche Geschichte nicht als gleichberechtigten Teil unserer Kultur anerkennen – Erfahrungen und Erinnerungen, die weiterhin abgewertet, abgetan, ignoriert und weggespült werden –, gewinnt sie. Eines, das Reimann in den 1960er Jahren vorhersagte, wäre ein wirklich geeintes Deutschland. Aber wer hört einem Mädchen zu, das auf der falschen Seite der Gleise geboren wurde?
„Essensliebhaber. Unverschämter Alkoholguru. Leidenschaftlicher Internet-Freak. Hardcore-Analyst. Gamer.“
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