Während Deutschland vor einer Bundestagswahl steht, ignorieren die größten politischen Parteien des Landes die direkte Demokratie. Randparteien unterstützen es jetzt nur noch.
Dieser Inhalt wurde am 18. September 2021 – 10:00 Uhr veröffentlicht
Petra Grimpov, Berlin
Für die diesjährige Bundestagswahl ist die Forderung nach einer bundesweiten Volksabstimmung von den Parteiprogrammen der Grünen und Sozialdemokratischen Partei (SPD) komplett verschwunden. Die Kehrtwende der als Befürworter der direkten Demokratie bezeichneten Parteien überrascht, zumal in ihrem Bericht traditionell Empfehlungen zur Ausweitung der Volksabstimmung in Deutschland enthalten sind.
Stattdessen unterstützen mittlerweile fast alle Parteien die sogenannten Bürgerräte, die grob per Stimmzettel gewählt werden und Abgeordnete beraten. Diese enge Anwendung der direkten Demokratie war bei beiden Parteien und vielen anderen beliebt. Solche Räte sollten im Vorfeld der Wahlen bei gewählten Themen Brücken zwischen Volk und Staat bauen. Sie haben jedoch nur eine beratende Funktion und sind nicht rechtsverbindlich. Das erste bundesweite Treffen fand 2020 statt.
In den Wahlprogrammen von 1980, 1993 und 2002 forderten die Grünen die Einführung direkter demokratischer Rechte. In ihrer Erklärung vom Dezember 2020 wurden diese Forderungen von der Tagesordnung der Partei gestrichen. Robert Habeb, Co-Vorsitzender der Grünen, hat kürzlich eine „Volksabstimmungspolarisierung“ ausgerufen. „Sie tragen nicht dazu bei, die Debatte in einer Gemeinschaft zu fördern, sie spalten sie“, bemerkte er. Eine knappe Mehrheit (51,5%) der Parteimitglieder stimmte jedoch dafür, die Bemühungen um mehr direktdemokratische Rechte aufzugeben.
Derzeit beschränkt sich die moderne direkte Demokratie in Deutschland nur in zwei Fällen auf Volksabstimmungen: die Verabschiedung einer neuen Verfassung, die nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschen vorgesehen ist, und die regionale Abstimmung bei der Neuordnung der Länder. Die Entwicklung zur Vergrößerung des Initiativ- und Wahlinstrumentariums ist so alt wie die Wiedervereinigung Deutschlands Anfang der 90er Jahre. Seitdem haben alle 30.000 deutschen Kommunen und alle 16 Bundesländer Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen eingeführt. Die Art und Weise, wie solche Volksabstimmungen durchgeführt werden, ist jedoch zwischen den Bundesländern sehr unterschiedlich.
Sven Gigold, Europaabgeordneter der Grünen, ist schockiert über die aktuelle Position seiner Partei. „Es ist falsch, auf diese populistischen Angriffe auf die heutigen politischen Institutionen so konservativ zu reagieren“, sagt er. Gigold spricht von der „Haltung der bürgerlichen Mittelstandsparteien“; Die Notiz von rechten Parteien, die immer vor einem landesweiten Referendum warnen und behaupten, es werde die repräsentative Demokratie des Landes schwächen.
Christdemokraten kritisieren die Mitlösung
Die Christlich-Demokratische Partei (CDU), insbesondere ihre Vorsitzende, die scheidende Angela Merkel, war schon immer eine lautstarke Kritikerin des Rechts der Bevölkerung auf Gesetzgebung. Das Wahlprogramm der Partei ging nicht auf die Frage der direkten Demokratie ein. Die endgültige Entscheidungsbefugnis im Entscheidungsprozess über wichtige Fragen an der Urne ist – zumindest nicht aus umstrittenen historischen Gründen – für deutsche Staatsbürger von weitaus geringerer Bedeutung als für Schweizer.
Die Unabhängige Demokratische Partei (FDP) ist so negativ geworden, dass die Menschen direkt in den Entscheidungsprozess eingebunden werden. Die Partei erklärt in ihrer Erklärung vom April 2021 ausdrücklich, dass „unser Parlament dafür verantwortlich ist, wichtige Angelegenheiten zu diskutieren und zu entscheiden“. Früher war es offen für die direkte Demokratie, und 2004 startete die FDP eine Kampagne für eine bundesweite Volksabstimmung über die damals umstrittene EU-Verfassung.
Nach Prozessen zu Themen wie Demokratie, Klimawandel und Deutschlands Rolle in der Welt haben nun auch die FDP und andere Parteien Bürgerversammlungen gesucht.
Brexit- und Govit-Hemmer
Bemerkenswert ist, dass sich nicht nur die Grünen und Liberalen von den Referendumsverpflichtungen verabschieden. Die SPD hat das Wort „Referendum“ aus ihrem Wahlprogramm gestrichen und setzt sich nun für Bürgerversammlungen ein. „Wir werden den Willen der Bürgerversammlungen prüfen und neue Wege erkunden, um eine direkte Beteiligung der Bevölkerung an der Beschlussfassung des Bundes einzuführen“, heißt es darin.
Die Sozialdemokraten haben vor langer Zeit eine Änderung des deutschen Grundgesetzes vorgeschlagen. Der erste derartige Vorschlag wurde 2002 im Rahmen der Regierung mit den Grünen vorgelegt, der zweite 2013. Obwohl eine Mehrheit der Parlamentarier für den Vorschlag stimmte, erhielt er keine Zweidrittelmehrheit. Die Christdemokraten und ihre bayerische Schwesterpartei CSU müssen mit an Bord gewesen sein.
Der Sinneswandel von Grünen und SPD hat verschiedene Gründe. Das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich war ein großes Hindernis, während die teils rachsüchtigen und aufschlussreichen Debatten um die Govt-19-Epidemie das Verhältnis zwischen den Menschen und ihren politischen Vertretern weiter stärkten. In der Schweiz beispielsweise konnten allein in diesem Jahr Verdächtige der bundesstaatlichen Govt-19-Politik genug Unterschriften sammeln, um zwei Referenden zum Coronavirus-Gesetz des Landes zu starten.
Dunkle Vision für ein landesweites Referendum
Rufe nach einem bundesweiten Referendum sind derzeit nur von Parteien links und rechts der politischen Kluft zu hören, nämlich der rechten Alternative zu Deutschland (AfD) und der linken Linken. Ihre Ideologien sind jedoch völlig unterschiedlich. Die Linke stellt klar fest, dass direktdemokratische Prozesse parlamentarischen Entscheidungsverfahren entsprechen müssen – nicht ändern. Die Partei hat auch kein Interesse an der jüngsten Tendenz gezeigt, dass Bürgerversammlungen das Referendum ändern. „Die Vorschläge des Bürgerrates werden demokratisch erst mit Beginn der Volksabstimmung legitimiert“, so der im Bundestag bezeichnete Parlamentarische Ausschuss der Linken.
Die antiparlamentarischen alternativen Abgeordneten Deutschlands (AfD) haben etwas ganz anderes im Sinn. Sie fordern ein Ende der „schrecklichen Freundschaften“ in der deutschen Politik, und wie Roman Reich, AfD-Abgeordneter, sagt: „Je mehr Menschen Entscheidungen treffen, desto besser.“ Das ist für die AfD wichtig, denn die Einführung von mehr direktdemokratischen Rechten steht ganz oben auf der Agenda und im Wahlprogramm der Partei. Die Schweiz wird oft als Beispiel genommen; Die prognostizierten Verfahren sind jedoch nicht detailliert. Außerdem ist die rechte Partei kein Verfechter der Nutzung der bestehenden direkten Demokratie – auf lokaler und regionaler Ebene.
Die Chancen auf eine bundesweite Volksabstimmung in Deutschland sind geringer denn je.
Übersetzt von Billy Pearling aus dem Deutschen; Bearbeitet von Virginie Mangin
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