Diese Woche begann in Deutschland ein landesweiter Baustreik. Dies ist der erste Streik in der Branche seit 17 Jahren und der erste landesweite Streik seit 22 Jahren. Es begann am frühen Montagmorgen in Niedersachsen, als mehrere Bautrupps ihre Arbeit niederlegten. Bis Dienstagmorgen hatten sich Bauarbeiter in Osnabrück und Hannover-Langenhagen, Flensburg und Kiel, Jena und Mannheim dem Streik angeschlossen.
Die Industriegewerkschaft Bauen, Landwirtschaft und Umwelt (IG BAU) fordert eine monatliche Erhöhung des Tariflohns im Kernbereich Bau um 500 Euro. Dies war eine Reaktion auf den starken Druck der einfachen Bauarbeiter. Gleichzeitig tut sie ihr Möglichstes, um die Kontroverse unter Kontrolle zu halten. Robert Feiger, Chef der IG BAU, kündigte an: „Jetzt wird es einen Streik geben, und zwar einen großen Streik.“ Allerdings ordnete er keinen Vollstreik an, sondern lediglich regionale und sporadische „Punktstreiks“.
Grund für den Streik ist, dass sich die Bauunternehmer ab Ende April weigerten, den Schiedsspruch anzunehmen. Die IG BAU hätte diesen Schiedsspruch akzeptiert, obwohl er nicht ausreichte, um die unterdurchschnittlichen Tariflöhne zu decken, geschweige denn die Verluste durch die Inflation der letzten drei Jahre zu decken.
Der letzte Tarifvertrag für Bauarbeiter wurde im Herbst 2021 geschlossen, bevor die Inflation aufgrund der Kriegspolitik der Regierung und der Energiekrise explodierte. Der Deal endete am 31. März.
In den 33 Monaten von Juli 2021 bis März 2024 erhielten Bauarbeiter im Westen Deutschlands eine Lohnerhöhung von 6,2 Prozent und im Osten von 8,5 Prozent. Allerdings stiegen die Verbraucherpreise in diesem Zeitraum um 14,7 Prozent. Eine Senkung der Reallöhne ist impliziert. Die Ungleichheit wird noch größer, wenn man bedenkt, dass Arbeitnehmer und alle Geringverdiener besonders anfällig für Preisexplosionen bei Gas, Heizung und Miete sind. Die Arbeiter tragen die volle Wucht der Kriegspolitik, der Energiekrise und der Inflation.
Die Ungleichheit in der Baubranche bestätigt Professor Dr. Thorsten Schulten, Leiter Tarifpolitik bei der gewerkschaftlich geförderten Hans-Bachler-Stiftung. Ihm zufolge gehöre der Bausektor im Februar 2024 zu den „Branchen mit unterdurchschnittlichen Lohnsteigerungen“ und „muss eine erhebliche Nachfrage decken“. In diesem Sektor „datieren die zuletzt abgeschlossenen Tarifverträge aus einer Zeit vor deutlichen Anstiegen der Inflationsraten“, schrieb Schulten.
Gleichzeitig boomt die Baubranche seit sieben Jahren. IG BAU-Bundesgeschäftsführer Robert Fieger sagte gegenüber Business Weekly WirtschaftsWoche„In den letzten sechs oder sieben Jahren waren Bauunternehmen sehr profitabel. Und auch dem Bausektor geht es inzwischen gut. Zwar ist ein leichter Rückgang im Wohnungsneubau zu verzeichnen, eine bessere Konjunkturlage zeigt sich jedoch im Verkehrswegebau und im Brückenbau. Zudem macht der Wohnungsneubau nur 30 Prozent des Wohnungsbaus aus.
Ende April wurde nach drei gescheiterten Verhandlungsrunden eine Schiedsvereinbarung für einen neuen Tarifvertrag geschlossen. Schiedsrichter ist Dr. Rainer Schlegel, Richter und ehemaliger Präsident des Bundesgemeinschaftsgerichts. In seinem Schiedsverfahren wurde allen Mitarbeitern ab Mai eine monatliche Erhöhung des Tariflohns um 250 Euro zugesprochen. Nach elf Monaten sollen im Westen 4,15 Prozent und im Osten 4,95 Prozent hinzukommen.
Die IG BAU akzeptierte die Entscheidung, obwohl sie die jahrelangen Reallohnkürzungen im Baugewerbe nicht annähernd kompensieren kann.
Die meisten Bauunternehmer haben diese Entscheidung bereits akzeptiert. Doch am 3. Mai lehnten der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Zentralverband der Deutschen Bauindustrie (ZDB) dies ab. Während die Bauwirtschaft die Entscheidung akzeptierte, stimmte das Baugewerbe nicht zu. Der ZDB hatte sich eine Quote von 85 Prozent gesetzt, die Baugewerbe- und Handwerksbetriebe hatten jedoch nur 82 Prozent zugestimmt. Das Schiedsgericht wurde daher für gescheitert erklärt.
Der aktuelle Streik ist eine Reaktion auf diese Situation und hat eine enorme gesellschaftliche Brisanz. Die Baubranche beschäftigt derzeit eine Million Menschen, 800.000 in Westdeutschland und 200.000 in Ostdeutschland, und die Stimmung ist kampfbereit.
Viele Großbaustellen sind durch chaotische Subunternehmervereinbarungen gekennzeichnet. Immer wieder werden Arbeitsmigranten aus Osteuropa, der Türkei oder anderen Ländern um ohnehin schon sehr niedrige Löhne betrogen. Wenn sie versuchen, rechtliche Schritte einzuleiten, sind die Tochtergesellschaften oder Subunternehmer, die sie beschäftigt haben, entweder bankrott oder ganz verschwunden.
Die Bauarbeiter sind damit sehr unzufrieden. Obwohl sie das gesamte letzte Jahr 2023 schwere körperliche Arbeit bei jedem Wetter verrichteten, erhielten sie keine Lohnerhöhung. Im großen Baugewerbe arbeiten mehr als 80 Prozent der Arbeiter trotz der vertraglichen 39,8-Stunden-Woche mehr als 40 Stunden pro Woche. Im Sommer sind 10-Stunden-Tagesarbeitszeiten keine Seltenheit, eine Sechs-Tage-Woche ist üblich und Überstundenzuschläge werden nicht immer gewährt.
Dieser Teil der Arbeiterklasse spielt eine wichtige Rolle im Kampf gegen Lohndiebstahl, Geschwindigkeitsüberschreitung und Ausbeutung. Sie stehen nicht nur den Bausparkassen und den hinter ihnen stehenden Immobilienspekulanten und Aktionären gegenüber. Außerdem stehen sie einer Koalitionsregierung in Berlin gegenüber, die alles auf Kriegsbasis stellt. Mit ihrem Haushalt 2024 hat die Regierung eine gesellschaftliche Kehrtwende eingeleitet: Die Mittel für das Ministerium für Wohnungsbau, Stadtentwicklung und Bauwesen wurden trotz der desaströsen Lage auf dem Wohnungsmarkt um 5 Prozent gekürzt, während die Verteidigungsausgaben explodieren.
Die Bauarbeiter konnten in ihrem Kampf auf die Sympathie der gesamten Arbeiterklasse zählen, insbesondere auf die Unterstützung der Arbeiter in anderen europäischen Ländern, zu denen sie viele persönliche Beziehungen hatten. Dies liegt daran, dass Bauteams häufig international sind. Dazu müssen sich die Bauarbeiter jedoch in Aktionsgruppen zusammenschließen, die unabhängig vom IG-BAU-Apparat agieren.
Die gesamte Führung der IG BAU ist eng mit der Regierung und den Bauunternehmen verbunden. IG-BAU-Chef Robert Feiger ist wie sein Vorgänger Klaus Wiesehegel Mitglied der SPD. Heute hat die IG BAU rund 220.000 Mitglieder, darunter nicht nur Bauarbeiter, sondern auch diejenigen, die in der Gebäudereinigung sowie der Abfallsammlung, -entsorgung und -verwertung tätig sind.
In den letzten 30 Jahren hat die Baugewerkschaft zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Ihr Vorgänger, die Bau-Steine-Erden, hatte allein im Westen 720.000 Mitglieder. Die IG BAU gilt nicht nur als konservativ und regierungstreu, ihre Führer unterstützen auch ihre kriegsfreundliche Politik. Viele IG BAU-Vorstände sind angesehene Aufsichtsräte großer Bauunternehmen, wie etwa Karsten Burkhardt, der neben seiner Vorstandskollegin Nicole Simons in den Aufsichtsrat der Hochtief AG einzieht, oder Ulrik Lax, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Aveco ist die WISAG-Holdinggesellschaft.
Die IG BAU akzeptierte die Entscheidung des Schiedsrichters unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte. „Ein Kompromiss hätte uns auch einiges abverlangt“, gab IG-BAU-Chef Faiger zu, „aber wir waren uns unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Nun liegt der Streik nicht bei uns, der IG BAU, sondern bei den Bauunternehmen.“ Die IG BAU hat noch keinen Volksentscheid zur Organisierung eines bundesweiten Lohnstreiks eingeleitet, sondern lediglich ausdrücklich zu „punktuellen Warnstreiks“ aufgerufen.
Die IG BAU wird alles tun, um einen Totalstreik zu verhindern. Sie wird bei der ersten Gelegenheit Verständnis dafür haben, den Streik zu stoppen. Berichtet von Der SpiegelViele Arbeitgeber wollen nun freiwillig die Löhne der Arbeitnehmer erhöhen: „Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und der ZDB haben Erhöhungen von fünf Prozent im Westen und sechs Prozent im Osten vorgeschlagen“, heißt es. Wird der Streik der IG BAU überlassen, wird die Gewerkschaft diese Gelegenheit schnellstmöglich nutzen, um den Streik zu verkaufen.
Melden Sie sich für den E-Mail-Newsletter der WSWS an
„Essensliebhaber. Unverschämter Alkoholguru. Leidenschaftlicher Internet-Freak. Hardcore-Analyst. Gamer.“
More Stories
Bürokratie blockiert ukrainische und syrische Ärzte – DW – 29.08.2024
Starmer wirft Deutschland mangelnden Ehrgeiz zu Beginn des Brexit-Neustarts vor
Turnerin stürzt in Deutschland vom Berg in den Tod » Explorersweb